Tango ist nicht gleich Tango

von Christine Piswanger-Richter

In allen Tanzschulen Europas wird Tango gelehrt. Das ist ein Tanz im 2/4 Takt, bei dem der zweite Taktschlag betont ist (es gibt auch moderne Tangos im 4/4 Takt mit Betonung am vierten Schlag). Tango zählt zu den Standardtänzen, die in der Regel ihren Ursprung in Europa haben.

Der Tango kommt allerdings ursprünglich aus Buenos Aires, der Hauptstadt von Argentinien, und dieser klingt und sieht ganz anders aus als der Standardtango. »Erfunden« wurde er aber auch dort nicht von den Einheimischen, sondern von armen Einwanderern aus südeuropäischen Ländern wie Spanien oder Italien und von ehemaligen afrikanischen Sklaven. Die Polen steuerten ebenso Elemente bei wie die Deutschen, die das beim Tango Argentino bevorzugte Instrument, das Bandoneon (eine Handharmonika), nach Buenos Aires brachten. So entstand in den billigen Kneipen des Hafenviertels ein leidenschaftlicher Tanz, bei dem das Tanzpaar eine innige Grundhaltung einnimmt, die Gesichter einander zugekehrt. Die Musik ist weich und klingt oft etwas traurig oder zumindest sehnsuchtsvoll.

Bandoneon, © agephotography

In Argentinien hatte der Tango einen schlechten Ruf, weil er eben bevorzugt von armen Einwanderern getanzt wurde. Das änderte sich aber bald durch den »Export« dieses Tanzes nach Europa. Hier wurde er salonfähig gemacht, die Tanzhaltung änderte sich, das Paar sieht in der Grundhaltung streng in verschiedene Richtungen und die Bewegungen sind sehr zackig. Dazu passend ist auch die Musik rhythmischer.

Aber auch im Geburtsland wurde der Tango Argentino gesellschaftsfähig durch die Kompositionen und Arrangements von Astor Piazzolla. Er wurde 1921 in Argentinien als Sohn einer Auswandererfamilie aus Italien geboren, die dann nach New York ging, als Astor vier Jahre alt war. Die Familie hatte Heimweh – nein, nicht nach Italien, sondern nach Argentinien. Deswegen wurde viel Tango gehört, und Astor erhielt schon früh ein Bandoneon geschenkt, da der Vater hoffte, der Sohn würde ihm häufig seine geliebten Tangos vorspielen. Begabt war er tatsächlich, brachte sich vieles selbst bei, wollte allerdings eine Karriere als klassischer Komponist einschlagen. Er ging nach Paris, um bei der berühmten Komponistin, Dirigentin und Professorin Nadia Boulanger vorzuspielen. Sie sah sich seine Partituren aufmerksam an, entdeckte Einflüsse einiger europäischer Komponisten wie Maurice Ravel, Igor Strawinsky, Béla Bartók und Paul Hindemith. Was sie jedoch vermisste, war etwas unverkennbar Eigenes. Piazzolla kam doch aus Argentinien, da ist doch der Tango zu Hause, ob er nicht so etwas vorspielen könnte? Das war ihm zunächst gar nicht recht. Für ihn war der Tango die Musik der Halbwelt, Piazzolla schämte sich dafür, dass er selbst in Bordellen und Spelunken gespielt hatte. Diese Musik sollte er nun der respekteinflößenden Kompositionspädagogin vorspielen? Aber er wollte sie nicht enttäuschen, also spielte er am Klavier einen seiner Tangos, und siehe da, Boulanger bestärkte ihn darin, sich dieser Art von Musik zu widmen, denn das sei der »echte Piazzolla«. Er kehrte nach diversen Studien– nun mit stolz erhobenem Haupt – nach Argentinien zurück und gründete dort das »Octeto Buenos Aires«, in dem zwei Bandoneons, zwei Violinen, und je ein Bass, Violoncello, Klavier und elektrische Gitarre vertreten waren. Mit dieser Besetzung begann die Epoche des »Tango Nuevo« …

Zu Piazzollas großer Enttäuschung wurde er für seine Weiterentwicklungen zunächst angefeindet. Es gab Zeiten, wo sich weder er noch seine Familie aus dem Haus wagten, so sehr fühlten sich die Argentinier von seiner Musik brüskiert. Piazzolla ließ sich davon nicht beirren und ging seinen Weg konsequent weiter. Zunächst hatte er damit im Ausland Erfolg, was schließlich auch auf seine Heimat übergriff. Ihm verdanken wir letztlich, dass es nun nicht bloß Tango zum Tanzen, sondern auch zum Zuhören gibt.