Die kleine Spinne

von Andrea Strobl

Heute früh bekam ich einen Gast aus meinem Garten: Eine kleine Spinne spazierte ganz frech und fröhlich durchs offene Fenster herein. Wollte sie mir vielleicht guten Morgen sagen?

Und da fiel mir eine Geschichte ein, die ich euch kurz erzählen muss, denn die Spinnen waren nicht immer Spinnen – also so erzählen es uns zumindest die alten Griechen, die vor vielen vielen hundert Jahren gelebt haben …

Minerva verwandelt Arachne in eine Spinne, Antonio Tempesta, 1606; CC0 Rijksmuseum

Und die Geschichte geht so: In einem kleinen Ort in Kleinasien (das liegt heute in der Türkei und ihr könnt es mal in eurem Atlas suchen) lebte einmal eine junge Frau, die sehr gut weben konnte. Sie stellte alles Mögliche her: Tücher, Wandbehänge und vieles mehr. Sie hatte den schönen Namen Aráchne und war bald so bekannt, dass viele Leute ihre Webwaren kaufen wollten und manchmal deswegen auch von weither kamen. Deshalb wurde Aráchne auch ein wenig eingebildet und behauptete, sie hätte das Weben von der Göttin Athene höchstpersönlich gelernt und könne mittlerweile besser weben als ihre Lehrmeisterin …

 

Das gefiel natürlich der griechischen Göttin Athene, der Schutzpatronin der Weber, gar nicht. Sie verkleidete sich als alte Frau und besuchte Aráchne in ihrer Webstube. Sie wollte die junge Frau warnen, nicht allzu hochmütig zu sein, denn schließlich könnte sie ja wohl nicht besser weben als eine Göttin! Aber Aráchne lachte die alte Frau nur aus und machte sich über Athene lustig. Da wurde die Göttin so zornig, dass sie sich zu erkennen gab und Aráchne einen Wettbewerb vorschlug: Beide sollten einen Wandteppich weben und dann würde man ja sehen, wer es besser kann!

So setzten sich beide an den Webstuhl und begannen mit der Arbeit. Sie webten kostbarste Gold- und Silberfäden und alle nur erdenklichen Farben ein … Als die Teppiche fertig waren, musste die Göttin sich eingestehen, dass Aráchne tatsächlich den besseren Wandbehang gewebt hatte. Aber die darauf dargestellten Bilder erzürnten die Göttin erneut, denn Aráchne verhöhnte darin in ihrem Hochmut die Götter und sogar den Göttervater Zeus selbst …

Voller Wut zerriss Athene daraufhin Aráchnes Wandteppich, schüttete Aráchne ein Zauberkraut ins Gesicht und schrie: »Du und all Deine Nachkommen sollt auf ewig am Faden hängen!«

Mit diesen Worten verließ sie die Webstube. Aráchne aber begann ganz langsam, sich zu verwandeln: Zuerst verlor sie ihre Haare, dann verschwanden Nase und Ohren, sie wurde immer kleiner und kleiner, bis sie schließlich nur noch ein winziges Tier war …

Und so waren sie und ihre Nachkommen dazu verdammt, für immer als Spinnen ihr Leben zu fristen …

Jetzt kennt ihr die Geschichte hinter der kleinen Spinne, die mich besucht hat, und wisst, warum die Spinnen seither unaufhörlich ihre feinen, kunstvollen Spinnennetze weben …

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