Die kleine grüne Lok
Die Tür knarrte leise, als seine Mama sich aus dem Kinderzimmer schlich. »Gute Nacht, Toni«, hauchte sie dabei. Toni lächelte. Denn er war noch gar nicht eingeschlafen und freute sich darüber, dass er nun weiter mit seiner neuen Lokomotive spielen konnte. Ganz heimlich.
Er schaute sich die grüne Lok von allen Seiten genau an, und sein Nachtlicht reichte aus, um in die großen Augen zu gucken, die ihn hoffnungsvoll anstarrten.
»Kannst du mir wirklich helfen?«, flüsterte die kleine Lok. Und schob noch ein unsicheres »Tuuf, tuuf« hinterher. »Aber klar«, versicherte Toni. »Ich helfe allen, die Hilfe brauchen. Und meinen Spielzeugen besonders gern.« Und das stimmte. Toni hatte immer ein offenes Ohr für die Fragen seiner kleinen Freunde. Und er hatte sich auch daran gewöhnt, dass nur er mit ihnen reden konnte.
»Es macht mich nämlich total traurig, dass ich keine Ahnung habe, wo ich eigentlich herkomme und wer ich bin«, raunte die Lok verzweifelt. »Hm. Na, du bist eine Dampflok und ziehst Wagons über meine Gleise. Vermutlich kommst du aus einem Spielzeugladen«, riet Toni frei heraus.
»Ja schon, aber wer waren meine Vorfahren und wieso hat man mich gemacht?« Auch ein »Tuuf, tuuf« schniefte die kleine Lok hinterher. »Ich habe eine Idee!«, freute sich Toni. »Heute Nacht schleichen wir uns in Mamas große Bibliothek. Da gibt es Bücher über alles! Da finden wir ganz sicher Antworten auf deine Fragen.« Seit Toni in der Schule lesen gelernt hatte, verbrachte er viel Zeit in der riesigen Bibliothek im Erdgeschoss. Seine Mama arbeitete nämlich mit Büchern, und deshalb hatte Toni ganz besonders viele davon zu Hause.
Als es ganz still im Haus wurde und er sicher war, dass seine Mama schlief, nahm er seine Lokomotive und seine Taschenlampe und schlich sich die vielen Holztreppen hinunter ins Erdgeschoss. Die große verzierte Holztür zur Bibliothek knarrte, als er sie mit viel Anstrengung öffnete. Toni grinste aufgeregt, als er mit der Taschenlampe über die unzähligen Bücher leuchtete, die in den meterhohen Regalen auf ihn warteten. Es gab große und kleine Bücher, alte und neue, dicke und dünne – in allen erdenklichen Farben.
Die Lok staunte: »Wow! So viele Bücher!« »Ja!«, bestätigte Toni, »und in denen steht alles drin, was man sich so fragt! Und hier drüben gibt es einen Kartenblock. Das nennt man auch Kartei. Wenn man ein Wort sucht, sagt die einem, wo man das Buch dazu findet. Warte mal!«
Toni blätterte darin, murmelte etwas von Eisenbahn vor sich hin und zog schließlich zufrieden eine Karte heraus, auf der vermerkt war, wo das gesuchte Buch zu finden ist.
»Da hinten«, sagte er und ging die Regale entlang. »Es ist in diesem Regal.« Es dauerte nicht lange und Toni zog ein großes, schweres, rotes Buch heraus. »Die Geschichte der Eisenbahn«, verkündete er. Die Lok machte große Augen und stieß ein aufgeregtes »Tuuf, tuuf!« aus.
Nach einigem Blättern und Schmökern und mehreren »Hier steht’s!« begann Toni, seiner kleinen Lok zu erklären: »Also, früher gab es wohl weder Autos noch Züge. Man konnte nur mit Pferden und Kutschen durch das Land fahren. Da steht auch, dass das sehr lange dauerte und man oft tagelang von einer Stadt zur nächsten unterwegs war.« Toni blätterte gespannt weiter. »Schon vor über 330 Jahren wurde die erste Dampfmaschine erfunden, in Frankreich. Also eine Maschine, die durch heißen Wasserdampf angetrieben wird. Und im Jahr 1814, also vor rund 200 Jahren, baute dann ein Engländer die erste Dampflokomotive.
»Großartig!«, tuufte die kleine Lok. »Die sieht ja fast so aus wie ich!« »Ja, aber nur fast. Hier geht es noch weiter: Die erste Dampflokfahrt war zehn Jahre später in England. Schnell verbreitete sich die tolle Erfindung überall auf der Welt, und die Lokomotiven entwickelten sich weiter. Bis sie so aussahen wie du. Guck hier!« Toni deutete auf ein großes altes Schwarz-Weiß-Foto, welches im Buch abgebildet war. »Was steht denn da auf der Lok drauf?«, wollte das kleine grüne Spielzeug unbedingt wissen. »Da steht A-D-L-E-R. Das war wohl die erste Lokomotive, 1835 in Deutschland, und sie konnte 60 Kilometer pro Stunde fahren. Aber anfangs fuhren die Leute wohl ganz langsam.« »Äh, aber warum denn das? Wir sind doch ganz stolz darauf, schnell zu sein!«, meinte die Lok erstaunt. »Na hier steht, dass die Menschen damals Angst hatten, ihr Körper könnte platzen, wenn die Bahn zu schnell fährt.« »Pla…, pla…, platzen?« Die Lok fuhr vor Lachen im Kreis, und auch Toni konnte sich nicht mehr halten.
Plötzlich knarrte die Treppe im Flur. Schnell stellte Toni das Buch zurück ins Regal und huschte mit der Lok in sein Zimmer. »Puh. Das war knapp. Beinahe hätte uns Mama erwischt.« Behutsam stellte er die Lok zurück auf die Gleise. »Geht es dir jetzt besser?«, fragte Toni. »Und ob! Jetzt weiß ich, dass ich gemacht wurde, um Menschen zu helfen, sie schnell von einem Ort zum anderen zu bringen, und dass ich noch vor den Autos da war.« Stolz schielte sie in Richtung Auto-Ecke des Kinderzimmers. »Tuuf, tuuf.« Toni freute sich und war plötzlich richtig müde. »Schlaf schön, grüne Lok«, murmelte er und kuschelte sich zum Schlafen in sein Bett.